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Als Wohlthat-Gespräche werden die Bemühungen des Großdeutschen Reiches unter Hermann Göring und des Vereinigten Königreichs unter Lord Halifax um einen umfassenden diplomatischen Ausgleich bezeichnet, die im Sommer 1939 maßgeblich durch geheime Unterredungen des Ministerialdirektors Helmuth Wohlthat mit hohen Beamten der britischen Regierung in Gang kamen. Sie folgten auf eine erste Phase ernsthafter Konfrontation im Gefolge des Attentats auf Adolf Hitler am 20. April 1939 durch den britischen Militärattaché Noel Mason-MacFarlane. Sie wurden dabei immer wieder durch gezielte Indiskretionen torpediert und konnten bis zur Parlamentswahl in Großbritannien am 14. November desselben Jahres zu keinem zufriedenstellenden Abschluss gebracht werden. Die anschließend gebildete Labour-Regierung unter Clement Attlee brach die Verhandlungen kurz darauf ab.
Grundriss der deutschen Außenpolitik bis 1939[]
Traditionell gab es vier Richtungen, nach denen die deutsche Außenpolitik sich historisch orientiert hatte. Der Norden war seit der Reformation natürlicher Anschlusspunkt für protestantisch geprägte Regierungen. Zuletzt hatte Schweden bei der Befreiung der deutschen Staaten von Napoleon entscheidenden Einfluss ausgeübt. Darüber hinaus reichten die wirtschaftlichen und militärischen Kapazitäten Skandinaviens aber nicht aus, um als primärer Bündnispartner für das Großdeutsche Reich in Betracht zu kommen. Eine Orientierung nach Süden war vor allem für katholisch dominierte Herrschaften die natürliche Wahl gewesen. Die Ausdehnung der Habsburger-Herrschaft über Italien und Spanien folgte dieser Logik. Seit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches und der italienischen Einigung war jedoch auch diese Option immer uninteressanter geworden.
Es blieben also der Westen, allen voran Frankreich und Großbritannien, und der Osten, also Russland bzw. die Sowjetunion. Hitler hatte in seiner Programmschrift "Mein Kampf" beide Optionen offengelassen und prognostiziert, dass das Reich, sollte es seinen Fokus auf die Industrie setzen, einen Ausgleich mit den landwirtschaftlichen Kapazitäten der UdSSR finden müsse. Sollte es hingegen der Landwirtschaft zuneigen, wäre ein Bündnis mit England zwingend. Versuche, ein Bündnis mit Stalin auszuhandeln, hatte es in Ansätzen bereits gegeben. Joachim von Ribbentrop hatte mit seinem Kollegen Litwinow, der allerdings persönlich eher dem Westen als den Nazis zuneigte, bereits Tuchfühlung diesbezüglich aufgenommen. Allerdings fanden solche Bemühungen unter dem überzeugten und militanten Antikommunisten Göring ein jähes Ende.[1] Es blieb also nur noch die Möglichkeit, sich nach Westen zu orientieren oder ein nur mäßig potentes Bündnis mit dem Süden, also v.a. Italien und Spanien, zu forcieren.
Wie bereits Kaiser Wilhelm II. 1901 vor Beginn des Weltkrieges gegenüber dem englischen Kriegsminister Lord Middleton prophezeit hatte, sollte die Welt mittelfristig auf eine Konfrontation zwischen dem Westen (dabei vor allem Amerika als neuer Großmacht) und Russland zusteuern, in der das Großdeutsche Reich unter Göring entscheiden musste, ob es sich gegen alle Widerstände von beiden Seiten dem Westen annähern oder langfristig riskieren wollte, als die vom Monarchen erträumte "Mittelmacht" vielleicht am Ende doch zwischen Ost und West zerrieben zu werden, statt wie angedacht die drohende Aufteilung der Welt zwischen Amerika und Russland zu verhindern.[2]
Göring sah den Hauptgegner klar im Osten, im Bolschewismus. Dies auch, weil nach dem Scheitern der britisch-französisch-sowjetischen Bündnisverhandlungen - und damit auch dem Scheitern der Politik kollektiver Sicherheit, die der sowjetische Außenminister Maxim Litwinow propagiert hatte - die Fassade von Stalins Friedenswillen zu bröckeln begann. Innerhalb der sowjetischen Führung erhielten revisionistische und expansionistische Forderungen großen Zuspruch. Besonders Regierungschef Wjatscheslaw Molotow stand sinnbildlich für die Agressivität dieses Lagers.
Das Attentat auf Adolf Hitler und dessen Folgen[]
Auf dem Höhepunkt seiner Macht fiel der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler am 20. April 1939 an seinem 50. Geburtstag einem Attentat, ausgeführt vom britischen Militarattaché Noel Mason-MacFarlane, zum Opfer. In den Jahren seiner Herrschaft hatte Hitler dem Großdeutschen Reich zu einem beispiellosen Wiederaufstieg unter die führenden Weltmächte verholfen. Politiker aus dem In- und Ausland würdigten den großen Staatsmann, der Deutschland - ohne einen einzigen Schuss abgefeuert zu haben - aus den Fesseln des Versailler Vertrages befreit, den alten großdeutschen Traum durch die Wiedervereinigung seiner Heimat Österreich mit dem Deutschen Reich verwirklicht und den Deutschen ihren Stolz zurückgegeben hatte. Erst mit dem Einmarsch in die Rest-Tschechei und dem Anschluss des Memellandes endete die Geduld der Westmächte, die in Folge dessen zu einer gegen Deutschlands Expansion gerichteten Bündnis- und Garantiepolitik in Osteuropa übergingen.
Der Tag danach[]
Am Vormittag des 21. April war das drängendste Problem, dem sich das neue Staatsoberhaupt des Großdeutschen Reiches stellen musste, die Frage, wie das Reich auf den Mord an seinem Führer durch einen britischen Diplomaten reagieren sollte, bei dem noch keineswegs klar war, ob und inwieweit offizielle Stellen der britischen Regierung oder des britischen Geheimdienstes daran beteiligt waren oder wenigstens über Erkenntnisse verfügten, die den Anschlag hätten verhindern können. In einem ersten Schritt wurde der britische Botschafter einbestellt und ihm bedeutet, das Großdeutsche Reich betrachte die Ermordung Hitlers als kriegerischen Akt und halte sich alle Optionen offen. Als Minimalforderung an die englische Regierung formulierte Göring gegenüber Nevile Henderson die Bestrafung des Attentäters vor dem Volksgerichtshof. Darüber hinaus verlangte Göring eine Offenlegung aller Verbindungen des Attentäters zu offiziellen Stellen in der britischen Regierung, eine Forderung, die bereits Österreich-Ungarn 1914 gegenüber Serbien aufgebracht hatte. In einem zweiten Schritt wurde Botschafter Henderson das offizielle Schreiben Görings zur Kündigung des Deutsch-Britischen Flottenabkommens übergeben. Als Reaktion auf die Drohgebärden aus Berlin ließ Großbritannien seine Flotte in die Nordsee auslaufen und bereitete sich auf eine mögliche Blockade der deutschen Küste vor, für die bereits seit dem Winter konkrete Planungen der Admiralität vorlagen. Göring seinerseits versetzte die Luftwaffe in Verteidigungsbereitschaft und ließ Truppen an die Küste und an die Westgrenze verlegen. Im Hintergrund wuchs derweil der Druck auf Premierminister Chamberlain. Seine Sprachlosigkeit in den folgenden Tagen, in denen alles auf einen neuen Krieg zusteuerte, legten viele Beobachter als politische Führungsschwäche aus.
Das Ende Chamberlains[]
Genau zwei Wochen nach dem Attentat fand der Prozess gegen Noel Mason-MacFarlane vor dem Volksgerichtshof statt. Am 4. Mai 1939 wurde er zum Tode verurteilt und am 5. Mai frühmorgens in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Plötzensee durch den zuständigen Scharfrichter Friedrich Hehr mit der Guillotine enthauptet. Sein Leichnam wurde verbrannt und die Asche in der Spree verstreut. London bot, um die Hinrichtung zu verhindern, sogar die Zahlung eines Lösegeldes an und schickte einen Sondergesandten nach Berlin, in der Hoffnung, ein neues Abkommen aushandeln zu können, das die durch das Attentat entstandenen Spannungen auflösen würde. Göring blieb jedoch eisern und bestand auf dem Recht des Deutschen Volkes auf Vergeltung am Mörder seines Führers.
Am Morgen des 5. Mai reichte Arthur Neville Chamberlain bei König George VI. formell sein Rücktrittsgesuch ein. Die Hinrichtung eines britischen Diplomaten durch die deutsche Justiz war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nach dem Attentat reihte sich eine diplomatische Katastrophe an die nächste. Bereits zuvor hatte Chamberlain dem König nach einer Unterredung mit dem konservativen Fraktionsgeschäftsführer David Margesson den amtierenden Außenminister Lord Halifax als seinen Nachfolger empfohlen. Am Nachmittag desselben Tages trat Halifax erstmals als Premierminister ans Mikrofon und versprach, das Land besonnen durch diese Krise zu führen und die näheren Umstände des Anschlags schonungslos aufzuklären, um den Frieden in Europa zu bewahren und zu einer dauerhaften Friedensordnung zu gelangen, in die alle Nationen Europas eingebunden werden sollten. Damit streckte er die Hand gegenüber Göring weit aus und beugte sich de facto der Forderung des Feldmarschalls nach Offenlegung der Verbindungen des Attentäters. Damit war die erste heiße Phase der deutsch-britischen Konfrontation zunächst überstanden und die Reichsregierung konnte sich anderen, drängenden Fragen stellen.
Geheimverhandlungen über Helmuth Wohlthat[]
Der britische Premierminister Chamberlain hatte mit seinem Rücktritt nicht nur Platz für einen politisch unbelasteten und hoch angesehenen Nachfolger gemacht, sondern auch eine Möglichkeit zu neuerlichen Gesprächen mit der deutschen Führung eröffnet, nachdem die unmittelbare Kriegsgefahr gebannt schien. Diese erste Phase der Eskalation war allerdings von Görings Seite aus ohnehin nicht darauf ausgelegt gewesen, einen Krieg zu provozieren. Vielmehr war es darum gegangen, den Preis für eine Verständigung zwischen Großdeutschland und Großbritannien hochzutreiben. Bislang hatten sich die Briten immer moralisch im Recht geglaubt und das Reich in einer defensiven Verhandlungsposition gewähnt. Nun konnte Göring der englischen Führung zeigen, dass das Großdeutsche Reich nicht gewillt war, aus einer Verteidigungshaltung heraus zu verhandeln, sondern dass allein ein Gespräch auf Augenhöhe für die Reichsleitung infrage kam. In einer zweiten Phase könnten dann, im Schatten der entstandenen Drohkulisse, Emissäre Möglichkeiten zu einer - beiderseits gewollten - Verständigung eruieren.[3] An dieser Verständigung hatte vor allem die Wirtschaftselite des Reiches ein vitales Interesse. Auch die Minister Hjalmar Schacht und Walther Funk sahen in einem Ausgleich und einem Wirtschaftsabkommen mit England den einzig möglichen Weg zur Verhinderung des wirtschaftlichen Zusammenbruchs.
Erste Kontaktaufnahmen[]
Zunächst entstanden vor allem informelle Kontakte. Am Rande einer Walfangkonferenz in London im Juni 1939 vermittelte der norwegische Delegierte dem deutschen Ministerialbeamten Helmuth Wohlthat den Kontakt zu einflussreichen Fürsprechern in der britischen Regierung. Wohlthat hatte im Auftrag Görings als Beauftragter für den Vierjahresplan in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe wichtiger Verhandlungen mit dem Ausland über Devisenfragen und Rohstofflieferungen erfolgreich zum Abschluss gebracht. Über die folgenden zwei Monte fanden mehrfach Gespräche, u.a. mit Sir Horace Wilson, dem Leiter des Home Civil Service, statt, der eine ähnliche Funktion erfüllte wie der Chef der deutschen Reichskanzlei, und Frank Ashton-Gwatkin, dem Leiter der Wirtschaftsabteilung im Foreign Office. Auch mit dem amerikanischen Botschafter Joseph Kennedy bespach er sich. Ein wichtiges Thema war dabei die Übertragung der Goldbestände der Tschechoslowakischen Nationalbank, die in London lagerten, an das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren bzw. das Deutsche Reich. Diese würden die Lebensdauer der deutschen Devisenbestände noch einmal beträchtlich verlängern und dem Reich die dringend benötigte Zeit für eine wirtschaftliche Neuausrichtung erkaufen.
Reaktion der britischen Gesprächspartner[]
Diese und weitere Punkte wurden von Wilson als verhandelbar betrachtet, sofern das Deutsche Reich seine Aggression gegenüber seinen Nachbarstaaten beendete. Dies zeigte zum einen sehr deutlich, dass die britische Regierung selbst nicht gewillt war, der Garantieerklärung für Polen wegen einen Krieg zu beginnen, und zum anderen, dass die harte Gangart seit dem März 1939 keinem grundsätzlichen Mentalitätswechsel innerhalb der englischen Führung entsprang. Im Gegenteil versuchten Premier Chamberlain und Außenminister Halifax trotz der deutschenfeindlichen Stimmung innerhalb der Bevölkerung nach wie vor, zu einem grundlegenden Ausgleich mit dem Großdeutschen Reich zu gelangen.
Diese Verhandlungsbereitschaft entsprang keineswegs einer besonderen Sympathie für Deutschland, sondern vor allem nüchterner, realpolitischer Berechnung: Im Prinzip ging es nämlich um nicht weniger als die Frage, welche Zukunft das Britische Empire haben könnte. Seit dem Weltkrieg war allen politischen Akteuren bewusst, dass die Weltmachtstellung des Vereinigten Königreichs sich nicht langfristig aus eigener Kraft würde aufrecht erhalten lassen. Es brauchte einen wirtschaftlich und politisch potenten Bündnispartner, der imstande und gewillt war, den Bestand des Empire zu garantieren und abzusichern. Realistisch blieben dafür nur zwei Optionen: Die Vereinigten Staaten und das Großdeutsche Reich. Die Amerikaner hatten allerdings nicht das geringste Interesse daran, das britische Kolonialreich aufrecht zu erhalten. Auch eine gleichberechtigte wirtschaftliche Partnerschaft war von dieser Seite nur schwerlich zu erreichen. Daher konzentrierten sich die Bemühungen der britischen Regierung nicht nur aus Gründen des Appeasement auf Großdeutschland, sondern aus zwingender Notwendigkeit, weil nur so ein Überleben der alten Ordnung erreichbar schien.
Konkrete Ergebnisse der Vorgespräche[]
Aus den Wohlthat-Gesprächen im Juni und Juli 1939 entwickelten sich bald Grundzüge eines Verhandlungsprogramms. Die Konditionen hätten für das Großdeutsche Reich vorteilhafter kaum sein können.[4] Sie umfassten insbesondere:
- Eine gemeinsame deutsch-britische Gewaltverzichtserklärung, also die Verpflichtung, politische Konflikte nicht militärisch zu lösen
- Eine gegenseitige Nichteinmischungserklärung, also das Zugeständnis eigenständiger Interessensphären beider Großmächte sowie die Garantie für deren Erhalt
- Eine gemeinsame Erklärung zur Neuverhandlung der Kolonialfrage
- Eine gemeinsame Handelspolitik zur Sicherstellung der Rohstoffzufuhr beider Länder
- Internationale Verhandlungen aller europäischen Kolonialmächte über eine gemeinschaftliche Verwaltung Afrikas zur gemeinsamen Ausbeutung von dessen Ressourcen und Arbeitskräften
- Ein Entschuldungsprogramm für das Großdeutsche Reich inklusive eines enormen Kreditpakets, um die deutsche Wirtschaft vor dem Kollaps zu bewahren; verbunden mit einem Abkommen zur Koppelung des Pfunds und der Reichsmark auf dem internationalen Währungsmarkt
- Internationale Rüstungsabkommen, die die volle Gleichberechtigung des Großdeutschen Reiches im militärischen Bereich wiederherstellen, zugleich aber auch allgemein die Kriegsrüstung für alle Parteien beschränken sollten.
Die einzelnen Punkte waren teilweise schon länger im Gespräch gewesen – so ein Kreditvertrag oder eine Koordinierung der beiderseitigen Handelspolitik – teilweise erreichten die Überlegungen in diesem Stadium aber auch eine völlig neue, grundsätzliche Qualität. Besonders vorteilhaft für die deutsche Seite waren das Zugeständnis einer deutschen Einflusssphäre in Osteuropa und auf dem Balkan (im Übrigen ein Punkt, der massive Verstimmungen mit den französischen Partnern nach sich ziehen würde!) sowie die britischen Vorschläge zur Rüstung, die de facto einer völligen Aufhebung des Versailler Vertrages entsprachen.
Auch die Idee eines „afrikanischen Kondominiums“ aller europäischen Kolonialmächte unter Einbeziehung Deutschlands war in diesem Stadium, in dem sich erste Unabhängigkeitsbewegungen bilden, ein revolutionäres Konzept. Letztlich folgte es dem Vorbild der europäischen China-Politik zur Jahrhundertwende, wo die Kolonialmächte zuletzt im Boxer-Aufstand gemeinsam interveniert hatten, um ihre Interessen zu wahren. De facto hätten sich dadurch alle Beteiligten verpflichtet, gemeinsam jeden Widerstand gegen die Ausbeutung des Kontinents zu zerschlagen, was für die Einheimischen das langfristige Ende ihrer Freiheitsträume bedeutet hätte.
Die bilaterale Gewaltverzichtserklärung hingegen lief letztlich auf eine Anerkennung des Briand-Kellogg-Pakts hinaus, der 1928 geschlossen worden war (und den das Deutsche Reich damals auch unterzeichnet hatte), um den Krieg als Mittel der Politik international zu ächten. Besondere Überlegungen zur Verteidigung im Rahmen eines auswärtigen Angriffs Dritter enthielt diese Klausel nicht, während der Kriegsächtungspakt die Selbstverteidigung und die Teilnahme an militärischen Maßnahmen im Rahmen des Völkerbunds ausdrücklich erlaubte, sodass hier also eine gewisse ‚Flexibilität‘ bestehen blieb.
Fortsetzung der Verhandlungen im Auftrag Görings[]
Im Juli 1939 berichtete Wohlthat Joachim von Ribbentrop, dessen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker und Hermann Göring von den laufenden Verhandlungen und den mit den Briten erörterten Konditionen. Anders als Ribbentrop, der auf den offiziellen Kanälen zahlreiche Anfragen der letzten Monate hatte im Sande verlaufen lassen, war Göring von den Verhandlungsergebnissen beeindruckt. Während er selbst über seinen Tennispartner Max Egon zu Hohenlohe-Langenburg Gespräche mit dem ehemaligen Chefberater des Außenministeriums, Robert Vansittart, und über seinen schwedischen Kontaktmann Birger Dahlerus einen direkten Kanal zum Premierminister gesucht hatte, die ähnliche, aber weniger konkrete Rückmeldungen der Briten erhalten hatten, schienen ihm nun die inoffiziellen Kanäle erfolgversprechender. Mit offiziellem Segen des Führers kehrte Wohlthat, begleitet von Außenstaatssekretär Ernst von Weizsäcker, im August nach London zurück. Die Verhandlungen verliefen trotz der angespannten Ausgangssituation vielversprechend. Am 18. August fand ein erstes offizielles Gespräch mit dem Premierminister statt, während Außenminister von Ribbentrop über die weiteren Gespräche nicht mehr in Kenntnis gesetzt wurde, weder von Wohlthat noch von seinem eigenen Staatssekretär.
Auch wegen der unkalkulierbaren Risiken auf deutscher Seite bestand die britische Regierung darauf, diese Verhandlungen zunächst im Geheimen[5] zu führen, weil sie nach der deutschen Besetzung Prags im März des Jahres die öffentliche Meinung fürchtete. Erst bei Abschluss eines Vertrages mit dem Großdeutschen Reich wollte Halifax damit an die Öffentlichkeit gehen und dadurch die Bevölkerung wieder hinter sich bringen. Dabei hatte er primär die bereits für den 14. November 1939 angesetzten Unterhauswahlen im Blick, die er durch einen solchen diplomatischen Coup zu gewinnen hoffte.
Der „Reichsparteitag des Friedens“[]
Schützenhilfe dafür gab ihm Göring am 2. September 1939 mit seinem Auftritt beim „Reichparteitag des Friedens“[6] der NSDAP in Nürnberg, auf dem vor allem dem Ausland der anhaltende Friedenswille Großdeutschlands demonstriert werden sollte. Dabei setzte er sich als neuer starker Mann des Großdeutschen Reiches und als Garant der Stabilität in Mitteleuropa in Szene. In seiner Eröffnungsrede hob er seine Verdienste um das Zustandekommen des Münchner Abkommens hervor und kündigte als einen wesentlichen Eckpfeiler seiner zukünftigen Außenpolitik gesamteuropäische Verhandlungen zur vollen Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch Veränderung bestehender Grenzen oder ethnische Homogenisierung an, also die Schaffung homogener Nationalstaaten vor allem in Osteuropa, wo in aller Regel Siedlungs- und Staatsgrenzen nicht miteinander übereinstimmten. Die medial vielbeachtete Initiative wurde von den übrigen europäischen Mächten größtenteils sehr positiv aufgenommen.
Entgegen der Linie Hitlers, der die deutsche Kolonialbewegung bewusst kleingehalten hatte, erneuerte Göring allerdings auch die Forderung nach einer bedingungslosen Rückgabe der deutschen Kolonien als Vorbedingung für eine Rückkehr Großdeutschlands in den Völkerbund. Daher wurde im Zuge des Reichsparteitags auch der bayerische Reichsstatthalter Franz Ritter von Epp zum deklamatorischen ‚Reichsminister für die Deutschen Kolonien‘ ernannt, die es in der Realität noch zurückzugewinnen galt. Die Ernennung sollte vor allem den Anspruch des Großdeutschen Reiches gegenüber der Weltöffentlichkeit und -politik unterstreichen.
Gegenüber den Westmächten machte Hermann Göring offen und unmissverständlich deutlich, dass allein eine Stellung innerhalb der Weltpolitik des Großdeutschen Reiches würdig ist: Die einer Weltmacht! Dieses Ziel wolle er durch ein enges Zusammenstehen der mitteleuropäischen Staaten gegen die Sowjetunion im Osten erreichen. Damit positionierte er sich auch gegenüber dem Empire als Bollwerk gegen den Bolschewismus und verlässlicher Partner in der Friedenssicherung.[7]
Sowjetische Muskelspiele[]
Görings antibolschewistische Grundhaltung erhielt im Schatten der deutsch-britischen Annäherung über den Sommer und Herbst hinweg neue Nahrung und Bestätigung. Zwar hatte der Sowjetische Außenminister Maxim Litwinow sich angesichts der wachsenden Bedrohung durch das Dritte Reich seit 1938 um einen Ausgleich mit dem Westen und ein System kollektiver Sicherheit für Europa bemüht, scheiterte damit allerdings an der Ablehnung durch die osteuropäischen Verbündeten der Westmächte. Insbesondere Polen opponierte entschieden gegen jedwede Zugeständnisse an die Sowjetunion, da man fürchtete, einmal im Land würde die Rote Armee es nie wieder verlassen, unabhängig davon, ob sie als Freund oder als Feind käme. So blieben letztlich die seit dem Frühjahr 1939 laufenden Verhandlungen über ein Militärbündnis gegen Hitler bzw. das Großdeutsche Reich ergebnislos. Ab August betrachtete Stalin die Westpolitik Litwinows endgültig als gescheitert und ersetzte Litwinow durch seinen treuen Gefolgsmann Wjatscheslaw Molotow, der bereits seit 1930 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare und damit Regierungschef der UdSSR war. Molotow leitete in seiner neuen Funktion umgehend einen Wandel von Litwinows Politik der kollektiven Sicherheit hin zu einem offenen Expansionismus ein, den er mit zwingenden sowjetischen Sicherheitsinteressen begründete.
Erste Verhandlungserfolge[]
Ein erster wichtiger Meilenstein der Verhandlungen war die Freigabe der in Großbritannien eingelagerten Goldreserven der Tschechoslowakischen Nationalbank an das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren - und damit de facto an das Großdeutsche Reich. Dies entlastete nicht nur den stark angespannten deutschen Devisenhaushalt, sondern bedeutete im Wesentlichen eine Anerkennung der Annexion der Rest-Tschechei im März 1939 und die Einstellung der bisherigen informellen Unterstützung für die tschechoslowakische Exilregierung durch Premier Halifax bzw. dessen Vorgänger Chamberlain. Göring revanchierte sich dafür mit seiner Zustimmung zu einer bilateralen Gewaltverzichtserklärung.
Auch in der Frage der gegenseitigen Garantieerklärungen zeichnete sich eine Einigung ab. Als nach dem für die britischen Mandatsbehörden völlig überraschenden jüdischen Aufstand in Palästina und der Ausrufung des Staates Israel durch Ze'ev Jabotinski im Oktober Hermann Göring an die Mikrofone trat, verteidigte er entschieden die Hoheitsgewalt der Briten über die zerrissene Region und die Legitimität jeglicher Maßnahmen, die Militär und Justiz unternähmen, um die Ordnung im Nahen Osten wiederherzustellen. Im Gegenzug äußerte sich Halifax im Zuge der Danziger Annexionskrise wohlwollend zur Vorstellung einer deutschen Interessensphäre in Osteuropa, die es zu respektieren gelte, solange das Großdeutsche Reich dabei dem Geist der bilateralen Gewaltverzichtserklärung treu bleibe - die zwar militärische Gewalt, nicht aber andere Formen des Zwangs ausschloss. Damit setzte er gegenüber Polen das deutliche Signal, dass Großbritannien nicht zur Hilfe eilen werde, sollte es zu einer Konfrontation aufgrund der politischen Entwicklung in der Hafenstadt kommen.
Insgesamt verliefen die Gespräche also sehr positiv und wesentliche Marksteine schienen erreichbar. Ein Bündnis der "Germanischen Mächte" schien zum Greifen nah.
Das Ende der deutsch-britischen Ausgleichsbemühungen[]
Ein abruptes Ende erlebten die deutsch-britischen Gespräche allerdings im November 1939 als Ergebnis der britischen Unterhauswahl. Der Urnengang wurde maßgeblich von Fragen der Außenpolitik bestimmt, wobei durch Indiskretionen aus den Kreisen des Foreign Office die öffentliche Kritik an der Linie von Premier Halifax angeheizt wurde. Seit der deutschen Besetzung Prags im März des Jahres war die nur kurzzeitig ausgesetzte Appeasement-Politik der Regierung nicht mehr mehrheitsfähig. Das Wahlvolk strafte Lord Halifax für seine versöhnliche Haltung gegenüber dem Großdeutschen Reich unter Göring ab und ermöglichte dadurch der Labour Party unter Clement Attlee einen klaren Sieg, der sich allerdings nur in einer hauchdünnen Mehrheit im Parlament niederschlug. Unterstützung für ihren Anti-Appeasement-Kurs erhielt die Regierung in den folgenden Monaten vor allem von den LIberalen, die zwar an Stimmen hinzugewonnen, aber durch den Labour-Erfolg trotzdem erheblich an Mandaten verloren hatten. Nur eine Woche nach ihrem Amtsantritt brach die britische Regierung die Verhandlungen vollständig ab. In der Folge waren die Beziehungen zwischen Großbritannien und Großdeutschland für lange Zeit frostig, obgleich sich durch den bald darauf erfolgten Einmarsch der Sowjetunion in Finnland die Chance für eine Wiederannäherung bot.
Ereignisse (EUWR) |
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[1] In Gavriel Rosenfelds Szenario bricht Göring als eine seiner ersten Amtshandlungen die Verhandlungen über den deutsch-sowjetischen Handelsvertrag ab. Rosenfeld beruft sich hier folgerichtig auf eine der wenigen ideologischen Konstanten in Görings Weltbild: seinen militanten Antikommunismus. Ein Bündnis mit dem Bolschewismus ist unter dem Reichsmarschall kaum denkbar. So wie hier im Herbst 1939 der sich anbahnende Handelsvertrag gestoppt worden ist, dürfen wir im Sommer 1939 davon ausgehen, dass der vorherige Nichtangriffspakt nebst Zusatzprotokoll gar nicht erst zustande käme. Auch im allgemeinen Umfeld des beschriebenen Szenarios ist eine Ablösung Litwinows durch Molotow denkbar, wenn auch zu einem etwas späteren Zeitpunkt. Denn dass der Jude Litwinow während der noch laufenden Verhandlungen mit dem Westen abgelöst wurde, war in UZL vor allem als Signal an Hitler zu verstehen, dass von sowjetischer Seite Interesse an einem Zusammengehen bestand. Ein Scheitern der Verhandlungen, an denen die Briten nach den Friedensofferten Görings kein ernsthaftes Interesse mehr haben konnten, hätte aber ziemlich sicher auch in der AZL Litwinows politische Karriere beendet.
[2] In UZL sollte der deutsche Nationalneutralismus im Zuge der Diskussion um die Stalin-Noten zu Beginn der 1950er Jahre eine letzte Hochphase erleben, bevor er endgültig im Zuge der Westanbindung der Bundesrepublik verdrängt wurde.
[3] Auch in UZL hat es solche Versuche vielfach gegeben. Franz von Papen suchte als Botschafter in der Türkei den Kontakt zu den Briten, Ulrich von Hassell in Rom ebenso. Mit Wissen und Wohlwollen Görings unternahm Helmuth Wohlthat, Ministerialdirektor in der Vierjahresplanbehörde, mehrere Reisen nach London, um dort mit hochrangigen Vertretern der britischen Regierung über konkrete Inhalte deutsch-britischer Verhandlungen zu beratschlagen. Unterstützung erhielt er dabei vom deutschen Botschafter in London Herbert von Dirksen. Die höchstrangigen Kontakte - bis zu Hitler und Chamberlain - hatte der schwedische Industrielle Birger Dahlerus. Dieser versuchte selbst nach dem Beginn des Krieges noch im direkten Auftrag Görings, eine Verständigung mit den Briten zu erreichen. Dass diese Versuche scheiterten, lag zu einem wesentlichen Teil daran, dass die Minimalforderung der Briten - nämlich mit einem Deutschland ohne Hitler zu verhandeln - unerfüllbar blieb. Zwar bot Göring in einer von Dahlerus überbrachten Nachricht an, gegen Hitler zu putschen, doch erwiesen sich diese vollmundigen Zusagen als Kartenhaus, das in sich zusammenbrach, sobald Hitler mit seiner Faust auf den buchstäblichen Tisch schlug
[4] Dass dieses Programm in UZL nie zur Ausführung kam, ist zum weit überwiegenden Teil der Persönlichkeit Hitlers zuzuschreiben. Wohlthat berichtete gegenüber Sir Horace Wilson, Hitler sei "wirtschaftlichen Argumenten nicht zugänglich", was de facto bedeutete, dass ihn die Finanzlage und der drohende wirtschaftliche Kollaps des Reiches nicht zu kümmern schienen. Demgegenüber musste Göring als Chef der Vierjahresplanbehörde nur allzu bewusst sein, wohin die Kriegswirtschaft steuerte. Insofern dürfte also mit einer grundsätzlichen Offenheit des neuen Führers gegenüber den von Wohlthat initiierten Verhandlungen zu rechnen sein. Das Verhandlungsprogramm zeigt jedenfalls, wie weit die Briten zu gehen bereit waren, um den Frieden in Europa zu erhalten. Dass sie Göring gegenüber zu weniger weitreichenden Zugeständnissen bereit gewesen wären, ist kaum anzunehmen.
[5] Die Geheimverhandlungen wurden in UZL immer wieder durch Indiskretionen aus den Kreisen des Foreign Office torpediert, die nicht zuletzt auch die öffentliche Kritik an der Linie von Premier Chamberlain anheizten. Dass nach den von Halifax angestrengten internen Ermittlungen im Außenministerium dafür in der AZL noch die Voraussetzungen existiert hätten, darf allerdings bezweifelt werden. Von einem Erfolg der deutsch-britischen Geheimverhandlungen hätte jedenfalls das politische Überleben der Regierung von Lord Halifax vollständig abgehangen.
[6] Der Reichsparteitag 1939 war bereits unter diesem Motto angekündigt und beworben worden und musste dann in UZL durch den geplanten Kriegsausbruch im August kurzfristig abgesagt werden. Man hatte erkennbar nicht damit gerechnet, dass der Konflikt mit Polen tatsächlich zu einem Krieg mit den Westmächten eskalieren könnte.
[7] Im Laufe ihrer Geschichte waren die britisch-russischen Beziehungen sehr wechselhaft. Da die britische Politik in der Regel auf ein Kräftegleichgewicht auf dem Kontinent aus war, kämpften Briten und Russen regelmäßig sowohl mit- als auch gegeneinander. Erst mit dem russischen Vordringen nach Zentralasien und auf den Balkan entwickelte sich ein dauerhafterer Interessengegensatz, da das Zarenreich nun unmittelbar britische Interessen im Mittelmeer und in Indien bedrohte. Daran änderte der gemeinsame Kampf gegen das aufstrebende Deutsche Kaiserreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nichts Grundlegendes. Spätestens nach dem Scheitern der alliierten Intervention im Russischen Bürgerkrieg und dem Versuch der Bolschewisten, Polen zu erobern, war man in England überzeugt, dass der ‚Russische Bär‘ jederzeit wieder zuschlagen könnte.